„Es darf nicht soweit kommen, dass so ein System noch einmal installiert ist, dann kommt der einzelne Mensch nicht mehr dagegen an.“ Walter Hameyer
Am 14.03. traf sich der Pädagogik-Leistungskurs der Jahrgangsstufe 13 mit dem Zeitzeugen Walter Hameyer. Moderiert und ergänzt durch historische Fakten und Bildmaterial aus Falkensee wurde die Veranstaltung von der Pfarrerin der Seegefelder Kirchengemeinde Gisela Dittmer.
Frau Dittmer hat in akribischer Arbeit die Geschichte der Seegefelder Kirche recherchiert. Grundlage waren sowohl Gespräche mit Gemeindemitgliedern, historisches Material der Familie von Ribbeck und Archivmaterial u.a. aus zahlreichen Archiven, wie z.B. des Siemenskonzerns, dessen Firmengeschichte mit der Geschichte der Gemeinde verwoben ist. Herausgekommen ist eine Festschrift mit dem Titel „750 Jahre Seegefeld. Christliches Leben im Wind der Zeiten“, erschienen im Jahr 2015.
Der 1928 geborene Walter Hameyer ist in der Seegefelder Kirche getauft worden und hat nicht nur als jemand der in der NS-Zeit, DDR und Bundesrepublik gelebt hat, viel von seiner Lebens- und Zeitgeschichte zu berichten.
Die Schüler und Schülerinnen haben sich zuvor intensiv auf das Gespräch vorbreitet, indem sie im Rahmen des Unterrichts sowohl die Erziehung in der NS-Zeit als auch das Thema Zeitzeugenberichte schwerpunktmäßig erarbeitet haben.
Interessiert hat vor allem, wie es dazu kommen konnte, dass sich Menschen wie du und ich einem Regime unterworfen haben, dass so viel Leid und Elend über die Menschen gebracht hat und welche Rolle dabei die Erziehung spielte. Herr Hameyer meint, dass bereits vor der NS-Zeit die Weichen dafür gestellt wurden. Er kann von einem großen Hass gegen Frankreich berichten, welcher von Hindenburg forciert wurde. Hinzu kam ein überbordender Militarismus, der in der Gesellschaft herrschte und eine Uneinigkeit über die politische Ausrichtung, was eine Zersplitterung der Parteienlandschaft zur Folge hatte. Auch spricht er von Großgrundbesitzer in Ostpreußen, die verschuldet waren und Offiziere aus dem 1. Weltkrieg, die ein Interesse daran hatten, dass das System der Weimarer Republik instabil ist. Im Vorfeld der Wahlen im Jahr 1933 kam es in Falkensee bereits zu Einschüchterungen von Einzelpersonen, anderen Parteien und Organisationen, die der NSDAP im Wege waren. Auch Journalisten kamen in KZs. Im Keller des Rathauses Falkensee wurden Andersdenkende verschleppt und schwer misshandelt. Eine Gegenöffentlichkeit gab es kaum noch. Die Wahlen im Jahr 1933, bei denen die NSDAP mehr als die Hälfte der Stimmen im Ort bekam, waren, laut Frau Dittmer, bereits nicht mehr frei. Das Bedrohungszenarium für Andersdenkende wurde stärker.
Man randalierte oder zündete Einrichtungen wie das Fichteheim, eine Örtlichkeit für Sporttreibende Arbeiter, an und hinderte Feuerwehrleute daran zur Hilfe zu eilen. Zeitgleich forcierte man Initiativen, die die NS-Ausrichtung im Ortsbild sichtbar machten. Die Straße vor der Seegefelder Kirche erhielt den Namen Adolf-Hitler-Straße. Das Gutshaus, das eigentlich der Kirche verkauft werden sollte und die plante dort ein Pflegeheim einzurichten, wurde zum Hauptsitzt der NSDAP.
Hitler und Goebbels, der gerne in einer Gastronomie in Finkenkrug einkehrte, wurden zu Ehrenbürgern ernannt.
Zeitgleich wurde das Leben für die ortsansässigen Jüdinnen und Juden immer gefährlicher. Herr Hameyer hatte zwar keine jüdischen Freunde, „dazu gab es zu wenige in Falkensee“, sagt er. Doch er weiß von Juden in seiner weiter entfernten oder direkten Nachbarschaft, wie das jüdische Kinderheim in Finkenkrug und die Familie Zorn zu berichten. Herr Zorn war ein ehemaliger Offizier im ersten Weltkrieg. Denen hat er mit seinen Freunden Klingelstreiche gespielt. Als die Bedrohungslage für die Familie unerträglich wurde, hat der Herr Zorn seine Waffe aus dem Krieg genommen und zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen. „Das war eben so“, berichtet Herr Hameyer.
„Man hat sich darüber keine Gedanken gemacht. Darum muss man heute gewisse Interessen bei den Jugendlichen wecken, damit das nicht wieder passiert.“
Damals war Disziplin an erster Stelle. Wer abgewichen ist, wer nicht „normal“ war, nicht den Vorstellungen eines „arischen“ Menschen entsprach, musste weg. Wie auch Frau Voß aus der Gemeinde, die einen ihrer Arme nur eingeschränkt nutzen konnte. Sie wurde erst in eine psychiatrische Anstalt und von dort im April 1941 nach Bernburg verlegt. Kurze Zeit später erhielt ihr Ehemann die Nachricht, dass sie an „gelber Leberatrophie“ gestorben sei, also vergiftet wurde. Oder wie die angesehene Hebamme Wilhelmine Reinke, die Abtreibungen an durch Vergewaltigung schwanger gewordenen Zwangsarbeiterinnen im Arbeitslager der Firma Siemens vornahm, um diese vor einer Verschleppung in ein Vernichtungslager zu bewahren. Ihre Asche kam aus Auschwitz nach Falkensee zurück.
Herr Hameyer berichtet von Falkensee als eine Stadt mit ca. 20 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Hinzu kamen noch einmal 20 000 Gefangene Zwangsarbeiter aus Polen, Frankreich, Italien und der Sowjetunion, die von hier in den Rüstungsfabriken schufteten. Es waren menschenunwürdige Zustände dort. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Er erinnert sich an den Gestank, der von den umliegenden Teichen, Flüssen und Kanälen ausging, da es noch keine Kanalisation gab und die Fäkalien einfach dort hineingelassen wurden. Nach dem Krieg hat man in die Baracken deutsche Flüchtlinge einquartiert. Darum haben sich viele dann auch eher an die Flüchtlingslager erinnert als die Zwangsarbeiterlager.
Gleichzeitig begannen die Repressalien für die Kirchengemeinde, zu denen zu Beginn der NS-Zeit noch 80 % der Ortsansässigen gehörten.
Jugendliche Kirchgänger wurden sonntags dazu gezwungen den Hitlergruß vor der NS-Fahne auszuführen.
Die in der Jugendarbeit engagierten Mitglieder wurden dazu verpflichtet Hitlers „Mein Kampf“ zu thematisieren, bevor ihnen schließlich ganz verboten war in der Gemeinde tätig zu werden. Der Kindergarten der Gemeinde wurde im laufenden Betrieb von der Gestapo geräumt. Die kirchlich engagierte Besitzerin der gegenüberliegenden Löwenapotheke entzog sich dem steigenden Druck, indem sie Falkensee verließ. Die Kinder und Jugendlichen sollten in die NS-Organisationen gehen und dort so früh wie möglich auf dessen Ziele eingeschworen werden: der uneingeschränkte Wille sich der „Volksgemeinschaft“ unterzuordnen und kampfbereit zu sein. Auch Herr Hameyer war in der HJ.
„Das Strammstehen und das Kommandieren waren für mich wie Gift. Du wurdest eben ständig unterdrückt“.
Aber viele Jugendlichen waren begeistert von dem militärischen Gebaren in der HJ. Wenn man die Uniform der HJ oder dem BDM anhatte, dann konnte einem kein Lehrer etwas antuen. Es wurde in der Schule noch geprügelt. Aber man hatte so seine Tricks und hat den Lehrern auch Streiche gespielt.
Bereits 1936 wurden in Berlin Gasmasken ausgeteilt und erprobt, woraus für Herr Hameyer die frühe Kriegsvorbereitung des NS-Regimes hervorgeht. Er selbst hatte zu dieser Zeit ein schweres familiäres Schicksal zu tragen. Doch in der HJ wurde sein Interesse am Fliegen geweckt und er wurde Segelflieger. Da er erst 17 Jahre alt war, wurde er vorerst nicht zum Kampfpiloten verpflichtet. „Sonst säßen wir jetzt nicht hier zusammen“, so Hameyer. Viele der damals volljährigen Jungen die dazu eingezogen wurden, überlebten die ersten Kriegsjahre nicht, weiß er zu berichten.
In der Kirchengemeinde erhob sich Widerstand gegen das NS-Regime. In Falkensee seien ca. 200 Menschen der bekennenden Kirche zuzurechnen gewesen, welche sich zu ihrem Glauben an Gott als dem einzigen Herrn bekannten und sich somit gegen Hitler engagierten. Die Männer aus den Reihen wurden jedoch schon früh zum Militärdienst eingezogen und kehrten mehrheitlich nicht aus dem Kriegsdienst zurück.
Ob Herr Hameyer an irgendeiner Stelle gedacht habe, dass etwas nicht richtig läuft, fragt eine Schülerin. Herr Hameyer verneint. Er habe schon bemerkt, dass in der Pantoffel-Fabrik in der Gartenstraße immer weniger Juden Zwangsarbeit leisten. Aber
„man hat sich gar keine Gedanken darüber gemacht. Die waren einfach weg. Das hat man so akzeptiert. Man hat seine Arbeit gemacht“.
In der Kriegsgefangenschaft in Posen habe man ihm und seinen Kameraden von Auschwitz erzählt. Doch das konnte er zunächst nicht glauben. Erst als man ihn nach Auschwitz brachte, wurden die Gräueltaten für ihn war.
Mit Falkensee hatte man aufgrund der Nähe zur militärisch genutzten Döberitzer Heide und der Anbindung nach Berlin großes vor. Zur Flugabwehr und Unterstützung der Großstadt Berlin waren auf dem Gebiet Geschütze, Flagggerät und Scheinwerfer verteilt worden, die auch von Jungen wie Herrn Hameyer bedient worden sind. Er wurde zum Ende des Krieges aufgrund eines Missverständnisses, durch das man ihn der Wehrzersetzung beschuldigte, im Stellungskrieg in Berlin eingesetzt. Herr Hameyer wurde zwar begnadigt, musste aber dafür mithelfen eine Brücke zu sprengen, um den Vormarsch der russischen Soldaten aufzuhalten, die bereits am Gesundbrunnen waren. Andere wurden deswegen noch kurz vor Kriegsende erschossen. Damals hatte er große Angst um sein Leben.
Ob Herr Hameyer die Nürnberger Prozesse verfolgt habe? „Das ist schon durch die Glieder gegangen, was passiert ist“, ist die Antwort. „Aber in der Zeit als die Verfolgung massiv begann, hieß es für uns
„Deutschland macht die Olympiade. Wir sind nach Elstal gefahren und haben uns zum ersten Mal mit schwarzen Menschen unterhalten. Falkensee ist aufgelebt.
Wenn Sie das gewusst hätten, was in den KZs geschieht, hätten Sie dann etwas anders gemacht?“ ist die Frage einer weiteren Schülerin. „Nee“, ist die Antwort von Herrn Hameyer, „die Menge war so dafür. Alle anderen waren unsere Feinde. Wir waren Deutsche, wir waren die Herren, das Herrenvolk. Darum frage ich heute,
was ist in uns drin? Was ist mit uns passiert? Wie kann man KZ-Aufseher werden, wenn man vorher Arzt war?
Uns geht es doch heute so gut, dass wir solche Fragen stellen können. Wir müssen dafür sorgen, dass wir unsere Freiheit erhalten und nicht Situationen schaffen, in denen erste Schritte hin zur Unfreiheit vorgenommen werden. Was kann es für uns Besseres geben als Demokratie? Aber Demokratie ist nicht einfach.“
Dr. Lydia Jenderek